Meiner Erfahrung nach ist ein wichtiger Grund dafür, dass viele Menschen so sehr ihrer Angst ausgeliefert sind, dass sie nicht wissen, was in ihnen vorgeht, wenn sie Angst haben. Der erste Schritt heraus aus der Umklammerung der Angst besteht in einem bewußten Umgang mit diesem Gefühl und der ruhigen und gründlichen Untersuchung des Auslösers der Angst.
Leider scheitern diese ersten Schritte bei vielen Menschen.
Menschen im Bann der Angst stehen neigen dazu, alle Argumente, die die Angst in Frage stellen zu vermeiden, zu verdrängen und zu verleugnen. Über die Angst zu reden bringt die Angst zunächst oft wieder hoch. Dennoch muss man sich der Angst stellen, will man die Chance wahrnehmen, sich von ihr zu befreien.
Erst wenn es den Menschen gelingt Mut zu fassen, sich allen ihren inneren Widerständen zum Trotz wieder ihrer Vernunft zu bedienen und zuzuhören, abzuwägen und dem Ergebnis ruhiger Überlegungen gemäß zu handeln, können sie das qualvolle Getriebensein durch ihre Ängste beenden.
Diese Selbstermächtigung gelingt, wenn sie erst einmal ruhig durchatmen und dann anfangen, bei der Beurteilung des Bedrohungsszenarios, alle vorgefassten Meinungen, Glaubenssätze und Überzeugungen zur Seite zu schieben und noch mal neu anfangen und sich den Sachverhalt genau anzusehen.
Für den Anfang ist aber erst einmal wichtig zu verstehen, daß im Menschen ganz konkrete physiologische Reaktionen ablaufen, wenn er sich bedroht fühlt und Angst hat, dass heisst, wenn er gestresst ist. Einiges davon haben wir schon kennengelernt im Blitzlicht „Stress 1“.
In der Psychologie spricht man dem gegenüber übrigens auch von einem Stress, den man als angenehm, inspirierend und beglückend erlebt, dem sogenannten „Eustress“ (eu = griech. gut). Das ist aber hier nicht mein Thema.
Ich möchte noch einmal betonen, die Kenntnis der körperlichen und seelischen Stressantworten unsere Organismus kann man verstehen. Das gewonnene Wissen macht den Unterschied im Umgang mit den eigenen Reaktionen. Zwar werden wir sehen, dass die Möglichkeiten limitiert sind und wir wieder einmal erkennen müssen, dass wir in gewisser Weise nicht „Herren im eigenen Haus“ sind. Aber aus eigener Erfahrung weiss ich, dass mein Wissen, über das, was da in mir abläuft, zwar die Reaktionen in mir nicht sofort beendet, aber dass ich ihnen nicht mehr so ausgeliefert bin, dass ich nicht mehr von der Angst überwältigt bin. Aus dem bewussten Umgang mit Angst und Stress ergeben sich Handlungsoptionen.
Solange ich nicht weiss, was für eine Schlange sich im Gras versteckt, ob sie giftig oder ungiftig ist, kann ich auch nicht angemessen mit ihr umgehen. Im Zweifel heisst das für die arme Schlage, dass sie sicherheitshalber totgeschlagen wird.
Im zweiten Teil meines Blitzlichtes „Stress“ beschreibe ich, was in verschiedenen Teilen unseres Körpers und besonders im Gehirn geschieht. Zunächst werde ich die wesentlichen beteiligten Strukturen und Funktionsabläufe beschreiben. Im Anschluss zeige ich, welche Wirkungen sich daraus ergeben. Zuletzt stelle ich ihnen einige Optionen vor für einen verantwortlichen Umgang mit unseren Stressantworten.
Ablauf:
1. Kontakt mit dem Stressor: Löwen und Bären sind rar in unseren Landen, deshalb wähle ich die neuesten Corona-Sterbezahlen in der Tagesschau als hochwirksamen Stressor.
2. Wenn es bald eine Entwarnung gibt, werden alle Stressreaktionen wieder zurückgefahren.
3. Bleibt die Bedrohung aber bestehen, wird sie vielleicht sogar verstärkt, dann bleiben natürlich auch die Stressreaktionen erhalten und leider verstärken auch diese sich.
Noch mal zur Wiederholung: Grundsätzlich reagieren wir immer gleich. Befinden wir uns in Gefahr, oder sagt uns jemand, dass wir in Gefahr sind, oder glauben wir (nur), dass wir in Gefahr sind, aktiviert unser Körper alle Ressourcen, um uns eine Rettung zu ermöglichen, sei es durch Kampf oder Flucht.
Sie erinnern sich an den Bären aus Stress I. Der wesentliche Unterschied dazu ist aber, dass wir in der heutigen Welt in der Regel weder fliehen noch kämpfen können. Die bereitgestellte „Power“ wird nicht abgebaut. Wenn der Stress nicht nachlässt, können daraus schlimme gesundheitliche Probleme entstehen: Dauer-Stress macht krank!
Bei der Stressreaktion spielt unser Gehirn eine hervorragende Rolle. Manche Bereiche sind zuständig für die emotionale Verarbeitung, andere für Planen und denken, wieder andere sind eben für Stress-Situationen zuständig. Sie sorgen dafür, dass bestimmte Hormone und Neurotransmitter bereitgestellt und bestimmte Nervenbahnen aktiviert werden, dass bestimmt Informationen bevorzugt verarbeitet werden und andere Informationen als erstmal nicht so wichtig zur Seite gestellt werden. Dabei laufen die einzelnen Abläufe in unserem Gehirn nicht isoliert ab. Das Gehirn arbeitet immer als ein Ganzes. Aber es spielen dabei unterschiedliche Teile eine unterschiedliche Rolle.
Eine besondere Rolle bei allem, was mit Angst und Stress zu tun hat, spielt die Amygdala. Dabei handelt es sich um eine kleine, an eine Mandel erinnernde, Struktur aus vielen Nervenzellen im Innern des Hirns. Sie sitzt am Ende des Hippocampus, einer weiteren Struktur, die zu unserem Thema gehört.
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Zusammen gehören sie zu einem größeren Komplex, dem Limbischen System. Diese übergeordnete Struktur hat viel zu tun mit der Steuerung von Emotionen und Triebverhalten. Darüber hinaus werden dort Substanzen wie zum Beispiel Endorphine (körpereigene opiumähnliche Stoffe) gebildet.
Die Amygdala steht wachsam bereit für den Fall, dass die Sinnesorgane bedrohliche Informationen liefern, dann löst sie eine Stressreaktion aus. Das geschieht ohne vorherige Einschätzung und Kontrolle durch unseren Präfrontalen Cortex, der für Rationalität zuständig ist und beurteilt, ob es sich tatsächlich um eine Bedrohung handelt und was zu tun ist. Diesen Bereich umgeht die Amygdala aus stammesgeschichtlich gutem Grund. Denn es muss gehandelt werden, nicht überlegt. Also sie empfängt Beunruhigendes und startet ihr Stress-Programm. Wir sind alarmiert, werden wacher und aufmerksamer. Wir greifen an oder fliehen, manche fallen in Schocklähme und stellen sich tot.
Die Amygdala löst ihre Aufgabe über zwei Wege: der schnellere Weg geht über das vegetative Nervensystem, den Sympathikus. Über das Vegetativum wird das Nebennierenmark veranlasst Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Diese Hormone sind dazu da die körperlichen Reaktionen, die für die Stressreaktion notwendig sind zu steigern: Blutdruck, Herzschlag, Muskelspannung und mehr Blutzucker für mehr Energie.
Der etwas langsamere Weg geht über den Hypothalamus, eine Struktur des Zwischenhirns. Der Hypothalamus steuert viele grundlegende Funktionen des Körpers. Insbesondere liefert er eine Reihe von hormonellen Botenstoffen, Neurotransmittern. Das CrH (Corticotropin releasing Hormon) bewirkt in der Hirnanhangdrüse, der Hypophyse, die Freisetzung des vielen bekannte ACTH (Adrenocorticotropin). ACTH bewirkt in der Nebenniere die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, das zu den Glucocorticoiden gehört. Cortisol sorgt dafür, dass im Körper mehr Energie zur Verfügung steht, es beeinflusst zum Beispiel den Blutdruck. Deshalb kann Dauerstress mit erhöhtem Glucocorticoid-Spiegel zu Hypertonie führen.
Cortisol hat eine dämpfende Wirkung auf das Immunsystem und sorgt so dafür Entzündungen zu hemmen (so wird es in der Medizin genutzt). Auch das mag auf der Flucht und im Kampf nützlich sein. Aber es führt bei Dauerstress zu einer herabgesetzten Immunabwehr.
Bei akutem Stress wird unser Immunsystem, also die unspezifische Abwehr aktiviert. Dazu gehören Barrieren gegen von aussen eindringende Schädlinge, aber auch Zellen, wie Granulozyten, Fresszellen, Killerzellen und bestimmte Proteine, die im Blut zirkulieren, um bei der Abwehr zu helfen. Spezialisierte Zellen teilen sich weniger oft. Der Körper richtet sich so darauf ein, akute Schäden möglichst schnell zu beseitigen. Dauerstress führt dazu, daß die Gesamtzahl von Abwehrzellen im Blut sinkt (Cortisol-Wirkung), Killerzellen sind weniger aktiv. Letztlich muss man sagen, Erreger haben leichteres Spiel. Deshalb meldet sich bei Dauerstress der lange verschwundene Herpes wieder, Verletzungen heilen langsamer und so weiter.
Deshalb scheint es sehr unklug zu sein, gerade zur Zeit, den Menschen immer weiter Angst zu machen, weil der Stress die Abwehr schwächt. Und eine gute Abwehr braucht der Körper, um Krankheitserreger abzuwehren.
Also: zusammen helfen das Vegetativum (Sympathikus) und die diversen Hormone, den Körper für die Krise zu stärken.
Aber: endet dieser Zustand nicht, dann führt der erhöhte Muskeltonus zu Verspannungen, die sinnvolle kurzfristige Unterdrückung von Sexualfunktionen und Verdauung werden zum Dauerzustand und so weiter, und so weiter.
Das ist aber leider noch nicht alles. Die Amygdala ist nicht nur für Stressreaktionen zuständig, sondern sie hat auch etwas mit unserem Gedächtnis zu tun. Sie kann eine dafür zuständige Hirnregion, den Hippocampus, beeinflussen. Zwar sorgt die Amygdala dafür, dass sich der Hippocampus stressige Situationen besser merkt, so dass schneller auf denselben Reiz reagieret werden kann. Aber leider werden bei Dauerbelastung Nerven im Hippocampus geschädigt. Die Aufnahme und Speicherung von Informationen funktioniert bald nicht mehr richtig: bei Dauerstress leidet die Gedächtnisfunktion.
Aber auch unser „Denkapparat“ nimmt bei Dauerstress Schaden. Der Präfrontale Cortex wird in Mitleidenschaft gezogen und kann dauerhaft verändert werden, dass heisst rationale Entscheidungen, kritische Hinterfragung von Gefahrenpotentialen fallen immer schwerer. Wenn also jemand dafür sorgen wollte, dass unsere bewusste Wahrnehmung und unsere Kritikfähigkeit sich reduziert, brauchte er uns nur unter Dauerstress zu setzen.
Dauerstress steht wegen der starken Auswirkungen auf unser Denken, Fühlen und Handeln im Verdacht, ein wesentlicher Faktor für Depressionen zu sein.
Bevor ich noch einmal die Perspektive auf Stress wechsele, möchte ich noch auf eine weitere Tatsache zu sprechen kommen. Leider scheint es so zu sein, dass intensiver Stress in der Schwangerschaft oder der frühen Kindheit, die Arbeitsweise von Hirn und Organen auf Dauer beeinflussen kann. Das führt unter Umständen zu chronischen Fehlfunktionen: es werden dauernd zu viele Stresshormone ausgeschüttet, man hat einen dauern zu hohen Cortisol-Spiegel. Das kann sich in gesundheitlichen Problemen auswirken.
Das Stichwort dazu ist „Epigenetik“, mein Thema für eines der nächsten Blitzlichter.
Stress und Angst: was tun?
Bevor man das Buch mit den zehn goldenen Tips, um Stress abzubauen liest, schlage ich vor, sich intensiv mit sich selbst auseinander zu setzen.
Wie die beiden Blitzlichter zeigen, ist gestresst zu sein nicht bloß eine "schlechte Gewohnheit" oder mangelnde Residenz, sondern Stress ist ein Thema, mit dem man sich auf vielerlei Weise auseinandersetzen sollte. Da finden sich in der Regel keine schnellen Lösungen und keine Patentrezepte.
Ich stelle demnächst eine Liste mit meiner Meinung nach brauchbaren Wegen und Strategien zum Umgang mit diesem Thema ins Netz. Da werden sicher auch einige der zehn goldenen Tips dabei sein, denn viele davon bewähren sich täglich: Meditation, Atemübungen, Bewegung, Ernährungsgewohnheiten. Das alles hilft wunderbar. Aber leider ersetzen sie den Weg der Selbsterkenntnis nicht.