Zu meinem Text aus dem Themenkreis „Erlösungshoffnung und Rettung aus der Not“, geschrieben aus gegebenem Anlass, möchte ich noch einen zweiten Teil zur weiterführenden Diskussion und Erläuterung hinzufügen.
Ein zentraler Punkt in diesem Text bestand in dem Hinweis auf den „Kulturkreis“, der mit seinen Narrativen und welterklärenden und Bedeutung spendenden Perspektiven Normen, Regeln, Ideologien, Dogmen und so weiter festlegt, die letztlich zum Fundament unserer Sicht auf uns selbst und die Grundstrukturen unserer Persönlichkeit kartographiert. Solange wir diese Grundstrukturen nicht hinterfragen, bleiben sie weitestgehend unbewusst, obwohl es sich bei ihnen doch gewissermaßen um epigenetische Bedingungen unserer Existenz a priori handelt. So könnte man sagen, gehören diese kulturellen Grundstrukturen zu unserem Erbe und werden von uns weitervererbt werden. Es scheint, dass allein die Kenntnis dieser oft toxischen Faktoren ein Antidot gegen ihre potentielle geistige Zerstörungskraft bietet.
Die Antwort auf den Hilferuf zur Rettung und Erlösung aus der Not ist ein Grundthema unseres Kulturkreises. Die judäisch-christliche Tradition bietet Raum für Hoffnung. Auch wenn es zuletzt erst in einem anderen, jenseitigen Leben zur Befreiung kommt. Leider ist die judäisch-christliche Lehre mit allerlei Fallstricken bestückt, die dazu führen, dass die hoffnungsvolle Zukunft kaum oder gar nicht durch das eigene Tun erreicht werden kann. Mit diesen Fragen werde ich in meinem nächsten Text beschäftigen, der sich explizit mit dem Thema „Kultur als epigenetischer Faktor“ beschäftigt.
Der Zusatz zu dem oben genannten Text weist auf ein anderes Narrativ, dass eine große Rolle spielt in den Fragen nach Rettung und Erlösung. Das ist der Mythos der Gnosis. Mit dem Begriff „Gnosis“ wird ein Bündel religiöser Praktiken, theologisch-philosophischer Erkenntnisse bezeichnet, die in einem Mysterienkult zusammengeflossen sind.
In den ersten Jahrhunderten nach Christi konkurrierten die Lehren der Gnosis mit dem Christentum. Aber spätestens nachdem das Christentum zur Staatsreligion geworden war, wurde dieser Mysterienkult mit aller Macht bekämpft, als häretisch verboten und zuletzt ausgelöscht. Aber die Wirkung der Gnosis auf die Formung des christlichen Dogmas war umfassend. Über die Zeiten hinweg blieben die gnostischen Lehren wirksam. Besonders in vielen heutigen esoterischen Lehren findet sich das gnostische Gedankengut an vorderster Stellung. Dies nicht zuletzt in der Folge der Wirkung der theosophischen Theoretiker und magisch-spirituellen Praktiker des neunzehnten Jahrhunderts. Deshalb erscheint die Kenntnis um die Gnosis als relevant zum Verständnis der kulturellen, d.h. hier, den theologisch-philosophischen Narrativen, die unser Denken mit prägen.
Um den Zusammenhang der gnostischen Mysterienlehre mit vielen aktuellen spirituellen Welterklärungsmodellen zu verdeutlichen, fasse ich im Folgenden einige Grundaussagen der Gnosis zusammen. Vielleicht wird deutlich, wie stark dieses Narrativ auch heute noch wirkt.
Im Mythos der Gnosis geht es um den „Weg“ der Seele von ihrem Ursprung in der „himmlischen Lichtwelt“ und ihrem tragischen Absturz in die materielle Welt, die Erde. Für die Seelen ist das wie die Vertreibung aus einer paradiesischen Heimat. Sie wird zur Fremden, zu einem heimat- und wurzellosen Flüchtling. Auch der Körper als Teil der materiellen Welt ist ihr zutiefst fremd. Für die Seele wird der Leib Gefängnis.
Aber ihr Schicksal führt sie auf ihrem weiteren Weg wieder zur Befreiung aus der Verdammung in die Materie. Zuletzt gelingt ihr der Aufstieg zurück in ihre ursprüngliche Heimat: die Lichtwelt.
Die Seele hat man sich vorzustellen als einen Teil oder einen Splitter oder einen Funken einer himmlischen Lichtgestalt, einem nicht irdischen „Urmenschen“. Dieser Urmensch war vor Äonen in die Gewalt dämonischer Mächte der Finsternis (eines Proto-Satans) gefallen. Dieses Böse zerriss diese lichte Gestalt in viele kleine Fetzen. So entstanden die Licht-Funken.
Warum haben die Mächte der Finsternis diese Untat begangen? Nun, sie wollten eine eigene Welt für sich aus dem Chaos schaffen. Sie quälte der Neid auf die himmlische Schönheit der Lichtwelt des Urmenschen. Mit dieser schrecklichen Tat gelang es der Finsternis sich diese Welt zu schaffen. Das ist unsere Welt auf der wir Menschen nun leben. Denn bei diesem Vorgang wurden die Lichtfunken in die Menschen gebannt. In uns Menschen sind nun diese Lichtfunken eingeschlossen. Sie bilden für uns unbewusst unser eigentliches Selbst.
Solange es der Finsternis gelingt, die Lichtfunken durch allerlei böse Tricks zersplittert zu erhalten, solange wird ihre Welt bestehen bleiben. Sie tun alles, damit es bei der „Gefangenschaft“, der an die Leiber im Menschen gebundenen Lichtfunken, bleibt.
Die Finsternis täuscht sie, betäubt und belügt sie, macht sie abhängig von den Dingen der Welt, sie schläfert sie ein und betäubt sie. Sie dürfen nicht aufwachen und sich erinnern, dass sie eigentlich Lichtwesen sind. Bei Vielen sind die Finsterlinge erfolgreich. Die Seelen schlafen und liegen in betäubenden Träumen. Bei anderen aber gelingt es nicht. Diese erinnern sich an „ihr“ Himmelreich. Es wird ihnen bewusst, dass sie in einem Gefängnis eingesperrt sind. Die Sehnsucht nach Rettung aus der Not und die Rückkehr in ihr Lichtreich erwacht in ihnen, entgegen aller Versuche der Finsterwesen, dies zu verhindern.
Aber alleine schaffen sie es nicht. Die höchste Gottheit erbarmt sich ihrer in ihrer großen Not. Zu ihrer Rettung schickt sie ihren Sohn, ein mächtiges Lichtwesen. Der Sohn ist verkleidet in die Gestalt eines Menschen, um die Dämonen zu täuschen. Auf seinen Ruf erwachen die im Menschen schlafenden Funken. Dieser Retter erinnert sie an ihre himmlische Herkunft. Er gibt ihnen eine Beschreibung ihres Weges zurück, er erklärt ihnen, wie ihr Aufstieg gelingen kann. Sie erhalten alles geheime (esoterische) Wissen, dass sie für ihren Aufstieg benötigen, damit sie an den Wächtern der Dämonen vorbeikommen können. Dem Ziel des Aufstiegs gilt nun ihr Leben. Wenn die Lichtfunken beim Tod des Menschen dessen Leib verlassen, können sie nun auf dem Weg hinaufsteigen, den der Gottessohn und Erlöser ihnen gebahnt und gezeigt hat.
Wenn alle von den Bösen geraubten Splitter des Urmenschen wieder im Himmelreich angekommen sind, werden sie sich zu der ursprünglichen Gestalt zusammenfügen. Dann aber wird die mit dem Verbrauch ihrer geraubten Lichtenergie künstlich erhaltene Welt, unsere jetzige Welt, aufhören zu existieren. Die Bösen Wesen, die der Dunkelheit des Chaos entstammen werden dann ihrem Gericht zugeführt.